Interventionsstrategien des Rates für Auswärtige Beziehungen

Mit anderen Worden heisst das: Das "Grosse Spiel" um die Vorherrschaft in Zentralasien wird im 21. Jahrhundert fortgesetzt, und die Vereinigten Staaten geben die Richtung vor. Dabei ist Afghanistan der Dreh- und Angelpunkt für die Herrschaft über Zentralasien, Zentralasien wiederum ist ein äußerst wichtiges Faustpfand für die globale Vorherrschaft.

Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft (Originaltitel: The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic Imperatives) lautet der Titel einer 1997 erschienen Studie des Rates für Auswärtige Beziehungen (Council on Foreign Relations, CFR). In diesem Buch wird der Sachverhalt im Zusammenhang ausführlicher strategischer Planungen für künftige Interventionen der USA in der Region diskutiert. Der Autor ist Zbigniew Brzezinski, langjähriger strategischer Berater der US-Regierung und von 1977 bis 1981 Nationaler Sicherheitsberater in der Regierung Carter. Die CFR-Studie handelt die amerikanischen Interessen in "Eurasien" ebenso detailliert ab wie die Notwendigkeit eines "anhaltenden und gezielten" US-Engagements in der zentralasiatischen Region zur Absicherung dieser Interessen. Anm.18

Die Einleitung über "Supermachtpolitik" beginnt Brzezinski mit dem Satz: "Seit den Anfängen der Kontinente übergreifenden politischen Beziehungen vor etwa fünfhundert Jahren ist Eurasien stets das Machtzentrum der Welt gewesen." Anm.19 Eurasien besteht aus Mittel- und Westeuropa und dem gesamten Gebiet östlich und südöstlich von Deutschland und Polen. Dieses Gebiet erstreckt sich über ganz Russland und China bis zum Pazifischen Ozean und schließt auch den Nahen und Mittleren Osten sowie den größten Teil des indischen Subkontinents ein. Brzezinski schreibt, die Kontrolle über die Länder Zentralasiens sei der Schlüssel zur Herrschaft über Eurasien.

Weiterhin beschreibt er Russland und China, die beide an Zentralasien grenzen, als die beiden wichtigsten Mächte, die die amerikanischen Interessen in der Region bedrohen könnten, wobei Russland nach seiner Einschätzung die größere Bedrohung ist. Die USA müssen demzufolge die "schwächeren" benachbarten Mächte, zum Beispiel die Ukraine, Aserbaidschan, den Iran und Kasachstan, umgarnen und manipulieren. So wirkt man russischen und chinesischen Vorstößen entgegen, die auf eine Kontrolle über die Öl- und Erdgasvorkommen und die weiteren Bodenschätze der zentralasiatischen Staaten abzielen. Es geht hier vor allem um Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan. Brzezinski hält außerdem fest, dass jedes Land, das die Vorherrschaft über Zentralasien erlangen würde, eine direkte Bedrohung für den Zugriff der USA auf die Ölvorkommen innerhalb und außerhalb der Region wie auch im Persischen Golf wäre. Den zentralasiatischen Republiken, "kommt sicherheitspolitische und historische Bedeutung zu, weil mindestens drei ihrer unmittelbaren und mächtigen Nachbarn, gemeint sind hier Russland, die Türkei und der Iran, von alters her Absichten darauf hegen und auch China ein immer größeres politisches Interesse an der Region zu erkennen gibt":

"Viel wichtiger aber ist der eurasische Balkan, weil er sich zu einem ökonomischen Filetstück entwickeln könnte, konzentrieren sich in dieser Region doch ungeheure Erdgas- und Erdöl­vorkommen, von wichtigen Mineralien einschließlich Gold ganz zu schweigen. Der weltweite Energieverbrauch wird sich in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten enorm erhöhen. Schätzungen des US-Energieministeriums zufolge steigt die globale Nachfrage zwischen 1993 und 2015 um voraussichtlich mehr als 50%, und dabei dürfte der Ferne Osten die bedeutendste Zunahme verzeichnen. Schon jetzt ruft der wirtschaftliche Aufschwung in Asien einen massiven Ansturm auf die Erforschung und Ausbeutung neuer Energievorkommen hervor, und es ist bekannt, dass die zentralasiatische Region und das Kaspische Becken über Erdgas- und Erdölvorräte verfügen, die jene Kuwaits, des Golfs von Mexiko oder der Nordsee in den Schatten stellen." Anm.20 "Kasachstan ist der Schild und Usbekistan die Seele des nationalen Erwachens der verschiedenen Völker in der Region. Usbekistan kommt bei der Förderung eines modernen Nationalismus in der Region eine Vorreiterrolle zu." Anm.21 Wenn erst einmal Pipelines in die Region führen, verheißen die wahrhaft riesigen Erdgasvorkommen Turkmenistans seiner Bevölkerung eine blühende Zukunft. Eine islamische Wiedererweckung, die bereits von außen her vom Iran, aber auch von Saudi-Arabien Unterstützung erfährt, wird wahrscheinlich aggressive Nationalismen beflügeln, die jeglicher Reintegration unter russischer - und mithin ungläubiger - Herrschaft entschiedenen Widerstand entgegensetzen." Anm.22 "Pakistan ist bestrebt, durch politischen Einfluss in Afghanistan geostrategische Tiefe zu gewinnen - und den Iran aber daran zu hindern, dasselbe zu tun und sich in Tadschikistan einzumischen - und aus jeder neuen Pipeline Nutzen zu ziehen, die Zentralasien mit dem Arabischen Meer verbindet." Anm.23 "Einsichtige Politiker in Russlands Führung erkennen zudem, dass die in den neuen Staaten im Gang befindliche Bevölkerungsexplosion an der russischen Südgrenze eine brenzlige Lage heraufbeschwören dürfte, sollten diese Staaten ihr Wirtschaftswachstum nicht aufrechterhalten können." Anm.24 "Turkmenistan hat aktiv die Möglichkeit für den Bau einer neuen Pipeline durch Afghanistan und Pakistan zum Arabischen Meer geprüft." Anm.25

Aus diesen Überlegungen schloss Brzezinski dann: "Amerikas primäres Interesse muss folglich sein, mit dafür zu sorgen, dass keine einzelne Macht die Kontrolle über dieses geopolitisch bedeutsame Gebiet erlangt und dass die Weltgemeinschaft hier einen ungehinderten finanziellen und wirtschaftlichen Zugang hat." Anm.26

"Chinas wachsende wirtschaftliche Präsenz in der Region und sein Interesse an ihrer Unabhängigkeit sind ebenfalls deckungsgleich mit den Interessen der USA." Anm.27 "Amerika ist heute die einzige Supermacht auf der Welt, und Eurasien ist der zentrale Schauplatz. Von daher wird die Frage, wie die Macht auf dem eurasischen Kontinent verteilt wird, für die globale Vormachtstellung und das historische Vermächtnis Amerikas von entscheidender Bedeutung sein:

In der Mitte Eurasiens wird der Raum zwischen einem sich erweiternden Europa und einem regional aufstrebenden China geopolitisch so lange ein Schwarzes Loch bleiben, wie sich Russland noch zu keiner postimperialen Selbstdefinition durchgerungen hat, während die Region südlich von Russland - der eurasische Balkan - ein Hexenkessel ethnischer Konflikte und Großmacht-Rivalitäten zu werden droht."

Brzezinski kommt dann zur entscheidenden Schlussfolgerung: "Ohne ein anhaltendes und gezieltes Engagement Amerikas könnten bald die Kräfte weltweiter Unordnung die internationale Bühne beherrschen. Angesichts der geopolitischen Spannungen, nicht nur im heutigen Eurasien, sondern überall auf der Welt, ist ein solches Szenario des weltweiten Zerfalls durchaus denkbar." Anm.28 Diese Beobachtungen wurzeln felsenfest in der größten Sorge des Rates für Auswärtige Beziehungen - der Aufrechterhaltung der weltweiten Vorherrschaft der USA:

"Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltlage tief greifend verändert. Zum ersten Mal in der Geschichte trat ein außereuropäischer Staat nicht nur als der Schiedsrichter eurasischer Machtverhältnisse, sondern als die überragende Weltmacht schlechthin hervor. Mit dem Scheitern und dem Zusammenbruch der Sowjetunion stieg ein Land der westlichen Hemisphäre, nämlich die Vereinigten Staaten, zur einzigen und im Grunde ersten wirklichen Weltmacht auf." Anm.29 "Aber bis es soweit ist, lautet das Gebot, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und damit auch für Amerika eine Bedrohung darstellen könnte. Ziel dieses Buches ist es deshalb, im Hinblick auf Eurasien eine umfassende und in sich geschlossene Geostrategie zu entwerfen." Anm.30

"Amerikas geopolitischer Hauptgewinn ist Eurasien. Nun gibt dort eine nichteurasische Macht den Ton an - und der Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann." Anm.31

"In diesem Kontext kommt es darauf an, wie Amerika mit Eurasien umgeht. Eurasien ist der größte Kontinent der Erde und geopolitisch axial. Eine Macht, die Eurasien beherrscht, würde über zwei der drei höchstentwickelten und wirtschaftlich produktivsten Regionen der Erde gebieten. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um zu erkennen, dass die Kontrolle über Eurasien fast automatisch die über Afrika nach sich zöge und damit die westliche Hemisphäre und Ozeanien gegenüber dem zentralen Kontinent der Erde geopolitisch in eine Randlage brächte. Nahezu 75% der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in seinem Boden wie auch in seinen Unternehmen steckt der größte Teil des materiellen Reichtums der Welt. Eurasien stellt 60% des globalen Bruttosozialprodukts und ungefähr drei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen." Anm.32 "Zwei grundlegende Schritte sind deshalb erforderlich: erstens, die geostrategisch dynamischen Staaten Eurasiens auszumachen, die die internationale Kräfteverteilung möglicherweise entscheidend zu verändern imstande sind, sowie die zentrale außenpolitischen Ziele ihrer jeweiligen politischen Eliten zu entschlüsseln und die sich daraus wahrscheinlich ergebenden politischen Konsequenzen zu antizipieren; zweitens, eine spezifische US-Politik zu formulieren, die in der Lage ist, die unter Punkt eins skizzierten Verhältnisse auszubalancieren, mitzubestimmen und/oder unter Kontrolle zu bekommen.

Bedient man sich einer Terminologie, die an das brutale Zeitalter der alten Weltreiche gemahnt, so lauten die drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, dass die 'Barbaren'-Völker sich nicht zusammenschließen." Anm.33 "Von nun an steht Amerika vor der Frage, wie es mit regionalen Koalitionen fertig wird, die es aus Eurasien hinauswerfen wollen und damit seinen Status als Weltmacht bedrohen." Anm.34 "Somit muss die Rückendeckung für die neuen postsowjetischen Staaten - für einen geopolitischen Pluralismus im Raum der früheren Sowjetmacht - ein integraler Bestandteil einer Politik sein, die Russland dazu bringen soll, seine europäische Option ohne Wenn und Aber auszuüben. Drei dieser Staaten fallen geopolitisch besonders ins Gewicht, nämlich Aserbaidschan, Usbekistan und die Ukraine. Usbekistan, volksmäßig der vitalste und am dichtesten besiedelte zentralasiatische Staat, stellt das Haupthindernis für jede neuerliche Kontrolle Russlands über die Region dar. Seine Unabhängigkeit ist von entscheidender Bedeutung für das Überleben der anderen zentralasiatischen Staaten, und es versteht sich des russischen Drucks noch am besten zu erwehren." Anm.35

Außerdem hält Brzezinski fest:

"In Anbetracht des Wetterleuchtens am politischen Horizont Europas und Asiens muss sich jede erfolgreiche amerikanische Politik auf Eurasien als Ganzes konzentrieren und sich von einem geostrategischen Plan leiten lassen. Dies erfordert ein hohes Maß an Taktieren und Manipulieren, damit keine gegnerische Koalition zustande kommt, die schließlich Amerikas Vorrangstellung in Frage stellen könnte."

"Zunächst besteht die Aufgabe darin, sicherzustellen, dass kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren bestimmende Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen." Anm.36

"Die Konzentration hegemonialer Macht in den Händen eines einzigen Staates wird, auf Dauer gesehen, immer weniger in die weltpolitische Landschaft passen. Daher ist Amerika nicht nur die erste und die einzige echte Supermacht, sondern wahrscheinlich auch die letzte." Anm.37

Brzezinskis nächstes Argument ist von entscheidender Bedeutung:

"Da Amerikas Gesellschaft in steigendem Masse multikulturelle Züge annimmt, dürfte, außer in Fällen einer wirklich massiven und von breiten Bevölkerungskreisen so empfundenen unmittelbaren Bedrohung von außen, ein Konsens über außenpolitische Fragen zunehmend schwerer herbeizuführen sein." Anm.38

Langfristige amerikanische Ziele zur Errichtung der Hegemonie - der mit "Amerikas Vorrangstellung" verbundenen "bestimmenden Schiedsrichterrolle" - über "Eurasien", deren Voraussetzung die Kontrolle über Zentralasien ist, zogen deshalb ein "anhaltendes und gezieltes Engagement" nach sich. Gerechtfertigt wurde dies durch das Herbeiführen "einer wirklich massiven und von breiten Bevölkerungskreisen so empfundenen unmittelbare Bedrohung von außen". Dies ist auch im Zusammenhang mit der Darstellung eines Musters der US-Außenpolitik im 10. Kapitel zu sehen: "Die öffentliche Meinung in den USA bezog zu der Frage, ob diese ihre Macht international geltend machen sollten, viel weniger eindeutig Stellung. Den Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg unterstützte die Öffentlichkeit hauptsächlich wegen der Schockwirkung, die der japanische Angriff auf Pearl Harbor ausgelöst hatte." Anm.39

Brzezinski sah klar voraus, dass die Errichtung, Konsolidierung und Erweiterung der in Zentralasien ansetzenden militärischen Vorherrschaft der USA über ganz Eurasien eine bisher noch nie dagewesene, unbefristete Militarisierung der Außenpolitik voraussetzen würde. Diese Militarisierungskampagne musste außerdem mit einem zuvor unbekannten Ausmaß an Unterstützung und Zustimmung im eigenen Land verbunden werden. Brzezinski erkannte auch, dass für eine solche Entwicklung das Gefühl einer in dieser Form noch nie erlebten äußeren Bedrohung gebraucht wurde.

Wenn man voraussetzt, dass Afghanistan das wichtigste Einfallstor nach Zentralasien ist, leuchtet sofort ein, dass die strategische Planung des Rates für Auswärtige Beziehungen zur Erweiterung und Konsolidierung der weltweiten Vorherrschaft der USA notwendigerweise mit der Errichtung einer US-Hegemonie in Afghanistan beginnen würde: Globale Vorherrschaft sichert man sich durch die Kontrolle über Eurasien, diese wiederum erlangt man über die Schlüsselregion Zentralasiens. Mit anderen Worten: Die Strategie zu einer weltweiten Führungsrolle der USA setzt in Afghanistan an und erweitert die Planung über Zentralasien und darüber hinaus auf ganz Eurasien.

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